2011-05-15 12:47

Wolfgang Rihm über Schönbergs Variationen Op. 31


„Was heisst das eigentlich, Zwölfton?“

Im Festspielhaus Baden-Baden gab Wolfgang Rihm im Oktober 2010 eine Einführung in Arnold Schönbergs Variationen op. 31.

Hören Sie hier die gesamte Einführung mit Tonbeispielen. Es spielte das Ensemble Modern Orchestra unter Peter Eötvös.

Ausschnitte der Einführung

„Schönberg schreibt diese Orchestervariationen 1928. Das ist eine Zeit, in der die Kunstwelt von klassizistischen Idealen durchdrungen ist. Es gibt Musik, die auf historische Modelle verweist – diese ‚wiederkäut’ sagen ihre Gegner. Schönberg blieb davon nicht unberührt. Er stellt sich diesen zeittypischen Strömungen in der ihn kennzeichnenden, sehr individuellen, synthetisierenden Weise.

Variationen für Orchester haben eigentlich keine lange Tradition. Das Urbild dürften Brahms‘ Haydn-Variationen sein, vielleicht auch das Finale der 4. Symphonie, eine Chaconne. Im Schönberg-Kreis gibt es einen sehr starken Bezug zu diesem späten Brahms-Werk. Anton Weberns Opus 1, die Passacaglia, reflektiert sehr genau diese Kompositionsweisen. Aber was ist vor diesen Orchestervariationen? Es gibt von Max Reger große Variationszyklen für Orchester, immer mit Fuge. Und es gibt ein sehr populäres Werk in der angelsächsischen Welt, das wirklich ein Meisterwerk ist, nämlich die Enigma-Variationen von Edward Elgar, mit denen sich auch Schönberg auseinandergesetzt hat. Neulich entdeckte ich in einem Skizzenblatt, dass Schönberg mit dem Elgarschen Thema herumgespielt hat. Es muss in seiner amerikanischen Zeit gewesen sein. Er hat das Werk also durchaus im Blick gehabt. Bei Opus 31 handelt es sich nicht um Variationen über ein fremdes Thema, sondern, so wie bei Elgar, über ein Thema vom Komponisten selbst.

Es ist ein ,Zwölftonwerk‘. Mit diesem Begriff bekommt man ja heute noch Menschen zum Frieren. Da stellt man sich etwas vor, das sofort explodiert, wenn es mit Luft oder Wasser in Berührung kommt …

Kein Glasperlenspiel

Was heißt das eigentlich, Zwölfton? Für Schönberg war das nie eine Liste von Tönen, die man abzählt und auf die Partitur überträgt, sondern das waren Themen, das waren Gestalten, das waren musikalische Formen, lebendige Wesen.

Wenn man jetzt diese Reihe mit ihren Umgestaltungen (Krebs, Umkehrung, Krebs-Umkehrung) ansieht, erscheint das kompliziert, ist im Grunde aber ein Kinderspiel. Man ordnet Dinge in der Fläche immer wieder anders an. Für Schönberg war das aber nie nur ein Glasperlenspiel, es war immer gleich Blut, Fleisch und Nerven. Schon wie er eine Reihe erfindet, ist es Komposition. Ich habe nichts verändert, sondern lediglich Choral-Fermaten hineingesetzt. Das ist im Grunde eine Liedgestalt.

Arnold Schönberg Variationen Op. 31 Bild 1

Der zweite Teil antwortet dem ersten. Das ist bereits eine kleine musikalische Gestalt, das ist nichts Papierenes, das ist schon wie eine kleine Erfindung, eine Invention. Thematische Gestalt. Diese Reihe klingt, wenn sie von hinten nach vorne, also im Krebs, gespielt wird, folgendermaßen:

Arnold Schönberg Variationen Op. 31 Bild 2

Hat fast einen Bach´schen Duktus. Und die Umkehrung:

Arnold Schönberg Variationen Op. 31 Bild 3

Und von dieser Umkehrung die Krebs-Umkehrung:

Arnold Schönberg Variationen Op. 31 Bild 4

Damit kann man etwas machen. Aber, es ist wie immer in der Kunst: das heißt noch gar nichts. Wenn es in die richtigen Hände kommt, wird Kunst daraus. Das ist wie mit einer Tonleiter. Mozart machte etwas daraus, und Dittersdorf? Also, Sie können mit einer Reihe Musik machen oder Langweiliges. (…)

Das Thema ist ein vielfältig in sich gegliedertes Gebilde, ein schönes Stück Musik, von dem viele Fäden ausgehen können. Eine variative Energie hat es in sich, es beginnt ja sozusagen schon nach kurzer Zeit sich selbst zu variieren, indem die Artikulation sprechend und immer sprechender und immer mitteilender wird. Es dient einer Folge von neun Variationen als Grundlage.

Wenn man das ganze Werk ansieht, hat es also mit der Introduktion, dem Thema, den Variationen und dem Finale seinerseits zwölf Teile. Es zeigt sich also eine durchaus in Zahlen gedachte Musik als Form.

Man kann allerdings jede Musik in Zahlen ausdrücken, auch Mozart, aber das heißt nicht, dass, wenn man mit Zahlen arbeitet, zwangsläufig Musik herauskommt. Den Gegenbeweis tritt ja immer Schönberg an, mit allem, was er auf anscheinend so intellektuelle Weise hervorgebracht hat. Das war die Diskussion in den 20er- und 30er-Jahren: Schönberg sei eigentlich ‚Kopfmusiker‘, der lediglich intellektuell etwas fortsetzt, was seine emotionale und künstlerische Energie am Anfang freigesetzt hat.

Natürlich ist die Erfindung eines Systems ein letztlich, psychologisch gesehen, konservativer Akt. Man möchte etwas kodifizieren und bewahren. Schönberg wollte durch das Erfinden eines Systems erstens einmal all den Anfeindungen, die ihm Willkür vorgeworfen haben, entgegenhalten, dass alles ‚mit rechten Dingen’ zugeht. Es ist nämlich ‚das Gesetz‘, das hier waltet.

Andererseits wollte er aber einen freien Zustand – nämlich das Arbeiten im chromatischen Total, also in der nicht-tonart-gebundenen freien chromatischen Verfügung der Töne –, den er um 1909 bzw. 1910 erreicht hatte, weiter kodifizieren. Er wollte ihn sozusagen als Sprache unter ein Gesetz stellen und dadurch auch bewahren, konservieren. Dass aus dieser konservativen Haltung Probleme für das Konservierte entstehen können, das soll jetzt nicht unser Thema sein, aber wir sollten es bedenken.

Ich bin jemand, der eigentlich von Kunst-Einführung wenig hält. Weil ich glaube, dass Kunst letztlich nicht verstehbar ist im Sinne eines Rätsels: jetzt habe ich die Lösung! Kunst ist kein Kreuzworträtsel. Kunst ist nicht durch etwas Hinzugefügtes, durch etwas Erklärendes plötzlich offen.

Am Besten man spielt die Stücke zweimal, dann erklärt es sich zumeist. (…)

Eleganter Walzer-Tonfall

Heute redet man viel von Vernetzung, man sagt, man kommt von hier nach dort in Lichtgeschwindigkeit. Man braucht bloß auf den Knopf zu drücken, schon hat man ganze Skalen von Möglichkeiten. Ja wem nützt das? Es ist ja nur für jemanden in irgendeiner Weise relevant, der den Überblick hat, der etwas zu ordnen versteht, mit einer ästhetischen Übersicht, die auf Kunst bezogen ist.“

Rihm ließ dann die Variationen kurz anspielen. Für ihn sind es Charakter-Variationen, wie seine Kommentare zeigen. Den Anfang der ersten Variation zeichnet „eine nervöse Kontrapunktik“ aus. Die zweite Variation bildet sich kanonisch, mit einem „sehr kammermusikalischen Ton“, dem die dritte Variation antwortet: „Durchaus von der barocken Suite her zu verstehen, eine Variation mit punktiertem Rhythmus.“

Die vierte Variation exponiert hingegen eleganten Walzer-Tonfall, „allerdings mit einem gebrochenen Ton, sehr wienerisch, sehr schrammelhaft … von einer großen Eleganz.“

In der fünften Variation herrscht „der symphonische Ton im variierenden Sinne: Die entwickelnde Variation ist ein vermittelndes Element. Schönberg beherrscht diese Formen des Entwickelns aus kleinsten Teilen und des Entwickelns von großen Gestalten meisterlich.“

Die sechste Variation, ganz Kammermusik: „Da stehen immer die kammermusikalischen Teile neben den orchestralen Entwicklungen, und in der siebten Variation dominiert eine sehr elegant geführte Fagott-Stimme, die das Thematische umspielt. Das Ganze ist Spiel und Licht und Helligkeit.“

Gegenüber dieser Leichtigkeit setzt die achte Variation „rhythmische, harte, kraftvolle Musik. Fast klirrend instrumentiert, wie bewaffnet.“

„Danach ein größtmöglicher Kontrast, ganz solistisch, die neunte Variation, sehr durchsichtig. Was zeigt sich da wie ein Schatten eines Mahlerschen Marschgebildes? Diese Variation wird sozusagen am Ende gestaut und gibt das Finale frei.

Warum schreibt Schönberg keine Fuge in der Reger- Nachfolge? Er schreibt sie deswegen nicht, weil die Polyphonie von Anfang an präsent ist. Im ganzen Stück herrscht polyphone Durchführungs-Atmosphäre. Es muss nicht noch durch eine Fuge auf Polyphonie hingewiesen werden. Das ganze Stück ist polyphon und das Finale nennt gleich am Anfang den Meister der Polyphonie: Bach.

Arnold Schönberg Variationen Op. 31 Bild 5

Dieses Bachsche Monogramm stammt wohl aus der Reihe, aber nicht direkt. Es ist in der Reihe ständig anwesend durch Halbtöne, es ist irgendwie immer da, wird aber nie direkt genannt. Und jetzt plötzlich wird es direkt genannt, so wie die Introduktion Teile des Themas nach und nach exponiert hat, so hat der ganze Variations-Zyklus dieses B-A-C-H nach und nach nahegelegt, als ob man es schon die ganze Zeit vorher gehört hätte. Man hört es aber vorher nicht wirklich. Alles scheint darauf hinzuweisen und es kommt zuerst flimmernd in der Höhe und dann in allen möglichen Lagen, wie eine unabweisbare Erscheinung.

Strettahaftes Finale

Das BACH-Motiv setzt einen symphonischen Satz frei, der in eine Art Abfolge von variativen Teilen gegliedert ist. Das Prinzip ist, dass das Schnelle immer schneller wird und das kammermusikalisch Langsame immer langsamer und immer reicher ausgestaltet. Während des ganzen Finales wird das Schnelle strettahaft und das Langsame immer polyphoner. Stauung, Entfaltung. Stauung, Entfaltung. Eine Peristaltik, die durch den ganzen Satz waltet.

Aus der Bewegung heraus wird das Innehalten einmal plötzlich ausformuliert und staut sich wie eine Klangwand. Und an diese Wand schließt der größte Gegensatz an, das zarteste Gebilde des ganzen Stückes. Nämlich ein Adagio, das vor die Schlussstretta gesetzt ist, in dem das Thema anwesend ist, in ganz vielen verschiedenen Ebenen und das wie eine Art ‚Zurückblicken’ das ganze Werk wie unter ein anderes Licht stellt.

Da finden Sie die zwölf Töne des Themas in der Umkehrung. Ganz einfach steht es da, wird aber beantwortet beziehungsweise begleitet: unter anderem vom Englischhorn, das das Thema in immer neuen Umformungen umspielt. Ein wunderbares Gebilde.

In der Harfe können wir in Transposition noch einmal das B-A-C-H-Motiv hören. Das ist ein Ruhemoment vor dem Schlusssturm, einem Stretta-Gebilde, das alles zusammenzufassen scheint, und die letzte Zusammenfassung ist dann ein Akkord, eine Schlussakkord-Bildung, bei der man das Gefühl hat, dass alle Energie, die davor stattfand, alles thematische Geschehen in einen Akkord hinein gebündelt erscheint und diesen Moment als Zeichen des Endes setzt.“

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