2012-06-21 11:42
Gertraud und Friedrich Cerha im Interview
Friedrich Cerha wird am 22. Juni in München der Ernst von Siemens Musikpreis verliehen. Es ist dies der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die in den letzten zehn Jahren eingesetzt hat. Cerha wird als Komponist entdeckt und gewürdigt, bei dem sich große handwerkliche Meisterschaft mit einem Kunstwollen verbindet, das sich an den großen Meistern des 20. Jahrhunderts orientiert, dabei jedoch nie auf Originalität sowie die Frische der Subjektivität verzichtet.
Könnte man sagen, dass die Idee von der Freiheit Ihr Lebensthema ist?
Friedrich Cerha: Das ist eine schwierige Frage. Ich war ja in meiner Jugend konfrontiert mit politischen Systemen, die die Freiheit des Einzelnen sehr gering achteten und beschnitten. Ich zitiere hier immer ein einschneidendes Kindheitserlebnis, als ich 1934 mit sieben Jahren, also nach den blutigen Auseinandersetzungen des Quasi- Bürgerkrieges in Wien, von meinem Vater auf die Kampfstätten geführt wurde und da die zerschossenen Häuser und den blutigen Asphalt gesehen habe und in meiner kindlichen Sicherheit und Geborgenheit mit dem Tod und den Konflikten konfrontiert worden bin. Dieses Erlebnis hat mich später sehr hellhörig in Bezug auf alle die Freiheit einschränkenden Maßnahmen gemacht, bis dann eben zum nationalsozialistischen Diktat hin.
Ich habe ja, so auch wie meine Eltern, in den allgemeinen Jubel 1938 nicht eingestimmt und danach Schwierigkeiten bekommen. Ich bin dann auch zweimal als Soldat der deutschen Wehrmacht desertiert.
Es gibt in einem Film über Sie eine berührende Szene. Sie sehen im Gebirge einem Vogel nach und sagen: „So möchte ich auch fliegen können.“
Friedrich Cerha: Das war am Lamsenjoch, dort war ich nach dem Krieg. Ich bin ja zu Fuß unter großen Mühen und Gefahren von Göttingen über den Thüringer Wald nach Tirol gegangen. Ich habe meine Ausweise alle im Thüringer Wald gelassen und wollte jeder Gefangenschaft entgehen. Es blieb mir nur der Ausweg in die Berge. Auf meinen Wanderungen bin ich da in diese Lamsenjoch- Hütte gekommen. Die sollte ich bewachen und auch ein bisschen bewirtschaften. Dieser Sommer und dieser Herbst 1945 in den Bergen waren für mich eine ganz wichtige Zeit, weil ich nach all den schrecklichen Erlebnissen des Krieges, die mich natürlich völlig verstört und traumatisiert hatten, sozusagen mich selbst wiedergefunden habe in der Einsamkeit der Berge. Ich hänge sehr an dieser Zeit.
Wenn man von der Wehrmacht desertiert, riskiert man sein Leben. Sie sind für die Idee, frei zu sein, mit Ihrem Leben eingestanden. Kann man das so sagen?
Friedrich Cerha: Ja, ich wollte nicht – oder möglichst wenig – diesem System, das ich zutiefst verachtet und gehasst habe, dienen. Und da war die Desertion natürlich ein geeignetes Mittel, wenngleich auch ein eigenes Interesse dahinter war, nämlich möglichst Zeit zu gewinnen und nicht an der Front eingesetzt und dort verpulvert zu werden.
Es scheint, dass Sie von Kindheit an ein Sensorium dafür hatten, was moralisch stimmt und was nicht.
Friedrich Cerha: Ja, sicher. Mein Geigenlehrer, den ich als Kind hatte, trug auch seinen Teil dazu bei. Er war Tscheche und hat mich auf viele schiefe Dinge hingewiesen – in politischer Hinsicht. Ein Beispiel: Ich habe als Kind dem gedruckten Wort unglaublich getraut, und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass man bewusst Falsches druckt, dass viele von diesen Meldungen, die da im Rundfunk gekommen sind, nicht gestimmt haben. Dass man also jetzt mit System lügt, das war für mich so fremd, ich konnte lange Zeit nicht daran glauben.
Der neue deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat gesagt: „Die Deutschen können Freiheit.“ Das ist eine interessante Formulierung: Kann man Freiheit können?
Friedrich Cerha: Ich glaube nicht. Freiheit ist eine Sache, die nicht nur mit dem Kopf zusammenhängt, sondern mit dem ganzen menschlichen, vegetativen System. Freiheit ist nicht nur eine Haltung, etwas, zu dem man gelangt. Frei muss man einfach sein, das hat mit Existenz zu tun.
Ich rede deshalb so ausführlich über dieses Freiheitsthema, weil Wolfgang Rihm Ihnen in einem Brief zum 85. Geburtstag geschrieben hat, er schätze sehr Ihre „freie Musik, die ihrerseits Freiheit ermöglicht“. Ist das für Sie auch ein bewusster Zugang, als Komponist Freiheit zu ermöglichen?
Friedrich Cerha: Frei zu sein, bedeutet ja, mit sich selbst eins zu sein und in sich selbst sozusagen Ruhe zu finden. Und dieser Satz von Rihm hat mich natürlich gefreut, weil ich mir ja auch in den Auseinandersetzungen um Neue Musik und Zwölftönigkeit und Serialismus und diverse Diktate oder Verbote, die damit im Zusammenhang aufgetreten sind, meine innere Freiheit immer erhalten habe und niemals solchen Diktaten zum Opfer gefallen bin.
Hat es auch mit Ihren Kriegserlebnissen zu tun, dass Sie für die musikalischen Dogmen der Nachkriegszeit unempfänglich waren?
Friedrich Cerha: Sicherlich, ja. Weil die Kriegserlebnisse und vor allem diese Einsamkeit, mit der ich in den Bergen gelebt habe und auf mich selbst zurückgeworfen war, für meine Identitätsfindung wichtig waren. Ich habe nie künstlerische Ziele mit Fanatismus verfochten, ich habe immer aus einer inneren Überzeugung heraus gehandelt. Prioritäten, die man im Serialismus gesetzt hat, habe ich aber nie wirklich ganz verworfen, wenn ich mich auch sehr bald davon freigehalten habe.
Man assoziiert Sie auch nicht unbedingt mit den Darmstädter- oder Donaueschinger-Zirkeln, zu denen man in gewisser Weise gehören musste, wenn man Erfolg haben wollte.
Friedrich Cerha: Ich war ja von 1956 bis 1958 bis zu einem gewissen Grad im Darmstädter-Zirkel, das war eine sehr wichtige Zeit. Dort kamen wirklich Komponisten aus aller Welt hin, es gab hitzige Diskussionen um die Neue Musik, ich habe dort auch eigene Sachen aufgeführt, der erste Spiegel etwa 1964. Als die Klangflächenkomposition für mich abgeschlossen war und ich wieder nach einer neuen Klarheit der Zeichnung gesucht habe, habe ich mich wieder in die Nähe von traditionellen Elementen begeben und mich ganz bewusst damit auseinandergesetzt.
Ich war also nie so sehr abseits – außer mit einem Stück, nämlich der Sinfonie, mit der ich wieder direkt auf Webern zurückgegangen bin und sie in Royan 1976 aufgeführt habe. Royan war damals das Zentrum der Avantgarde und aufgrund dieser Sinfonie hatte ich 10 Jahre unter der Verachtung der deutschen Avantgarde zu leiden, was ich aber mit Ruhe und Würde ertragen habe. Ich freue mich noch immer, dass ich mit diesem Stück die damalige Avantgarde eigentlich geschockt habe. Alfred Schlee hat dieses Stück übrigens besonders geliebt, erstaunlicherweise.
Durch die fallweise Verwendung eines Espressivo- Tonfalls sind Sie oft in eine Berg-Nachfolge gestellt worden, was Ihnen ja gar nicht so recht war.
Friedrich Cerha: Ja, das war sehr merkwürdig. Vor der Uraufführung des dritten Aktes der Lulu wurde ich nie mit Berg in Zusammenhang gebracht, in den Jahren danach plötzlich fortwährend. Es wurde eine Abhängigkeit von Berg festgestellt, was natürlich ein Unsinn ist.
Gertraud Cerha: Auch zum ganz jungen Rihm hat man Neo-Mahler gesagt. Espressivo ist Espressivo – was ist am Jakob Lenz Mahler? Nichts! Bei Cerha sagt man Berg. Jede Art von Espressivo wird in Richtung Mahler/Berg ausgelegt.
Sie haben unlängst erzählt, Sie hätten die Spiegel eigentlich für die Schublade geschrieben.
Friedrich Cerha: Die jungen Komponisten der 50er- und frühen 60er-Jahre hatten ja keine Möglichkeit, aufgeführt zu werden. Auch die Literaten und die Maler hatten es schwer. Wir haben in Kaffeehäusern, Teppichgeschäften und Frauenvereinen zusammen kleine Konzerte gemacht.
Ich habe mein erstes Orchesterstück Mitte der 50er- Jahre geschrieben: Espressioni fundamentali. Ernst Krenek hat mich damals besucht und die Partitur gesehen. Er hat es in Berlin aufgeführt. In den Spiegeln habe ich einiges aus den Espressioni weitergedacht, dann sind auch die Mouvements I-III entstanden, Studien völlig unterschiedlicher Art. Die Zweite ist schon eine Art Klangteppich, der durch kurze Blechbläsertöne durchbohrt wird, was ich dann im vierten Teil der Spiegel weiterentwickelt habe.
Das dritte Mouvement ist eine sich beständig verändernde Klangwolke, was später auch für die Spiegel wichtig war. Vorher gab es aber noch ein anderes Stück: Fasce. Das war für mich ein Schlag der Befreiung von allem Herkömmlichen, geschrieben für gigantisches Orchester, weit von einer Hoffnung auf irgendeine Aufführung entfernt. Nach Fasce kam unmittelbar diese Konzeption des Spiegel-Zyklus. Die ist ganz rasch erfolgt. Die Ausarbeitung hat dann 10 Jahre gedauert. Ich habe nicht damit gerechnet, die Spiegel jemals zu hören. Das hatte aber den Vorteil, dass ich auf überhaupt keine Praktikabilität Rücksicht nehmen musste – ob das Orchester diese und jene Besetzung hat, ob es das kann oder ob die vorgeschlagene Aufstellung toleriert oder nicht toleriert wird. Ich war dann überrascht, dass doch immer wieder jemand zu den vereinzelten Aufführungen gekommen ist und dann auch zur Gesamtaufführung.
Das Thema der Klangflächenkomposition ist offenbar in der Luft gelegen, denn im Umfeld der ersten Spiegel hat ja György Ligeti auch Atmosphères komponiert.
Friedrich Cerha: Jaja, die bekannte Geschichte, wie Ligeti zu mir gekommen ist, die Spiegel auf meinem Schreibtisch gefunden hat und aufgeregt gesagt hat: „Du komponierst mein Stück!“ Ligetis Atmosphères und auch die zuvor komponierten Apparitions sind aber etwas prinzipiell Anderes. Diese Stücke sind vor allem von einem statischen Charakter bestimmt, währenddessen es in den Spiegeln und auch in Fasce laufend Prozesse gibt. Eine Sache entwickelt sich und führt woanders hin, Prozesse beeinflussen einander, stören und verdrängen sich. Aber Ligeti hatte mit den Atmosphères den Vorteil, dass sie sofort in Köln aufgeführt wurden, weil er dort war. Ich bin währenddessen hier in Wien gesessen, die Spiegel in meiner Schublade. Sie wurden eigentlich nur zögernd wahrgenommen.
Es war aber jetzt für mich interessant, als bei Kairos die Spiegel erschienen sind: Peter Oswald hat ohne mein Wissen verschiedene Aufnahmen des Zyklus an verschiedene namhafte Komponisten geschickt und sie um eine Stellungnahme gebeten. Es hat sich herausgestellt, dass der Großteil die Spiegel überhaupt nicht gekannt hat. Von Seiten, von denen ich das überhaupt nicht erwartet hätte, kamen auf einmal hymnische Reaktionen. Johann Nestroy hat gesagt: „Die Zeit ändert viel.“
Beim letzten Wien Modern-Festival habe ich gelesen, dass es sich bei den Spiegeln um ein klassisches Stück handelt, wo ich doch nach den ersten Spiegel-Aufführungen so attackiert worden bin. Die Rezeption der Spiegel hat sich ja Gott sei Dank nach den ersten Aufführungen völlig geändert, sie wurden als intellektuelles Experiment, als Kopfmusik, bezeichnet. Das waren sie für mich überhaupt nicht, sie sind ja aus einem elementaren Ausdrucksbedürfnis gekommen, wobei ich eigentlich erst in den 80er-Jahren entdeckt habe, wie sehr ich mich mit diesem Werk von Kriegserlebnissen befreit habe.
Inwiefern?
Friedrich Cerha: In meinen klanglichen Vorstellungen sind viele dieser Kriegserlebnisse wieder heraufgespült worden.
Können Sie das genauer erklären, wie sich traumatische Kriegserlebnisse in Musik materialisieren?
Friedrich Cerha: Es gibt sehr dunkle und bedrängende Ereignisse in den Spiegeln.
Gertraud Cerha: Ich weiß nicht, ob du das nicht hineininterpretierst.
Friedrich Cerha: Hm, ich glaube nicht.
Sie kennen den Musikbetrieb als Lehrender, als Dirigent, als Komponist und Instrumentalist – amüsieren Sie diese Phänomene der Ablehnung und späten Wiedergutmachung?
Friedrich Cerha: Na ja, ich habe diese Kritiken der Spiegel schon mit einem gewissen Amüsement gelesen. Natürlich bin ich froh darüber, aber ich bin nicht so sehr überrascht, weil wir ja diesen Prozess der unmittelbaren Ablehnung und des späteren Eingehens in den Kanon des Musikrepertoires aus der Geschichte kennen, vom späten Beethoven angefangen bis zu Wagner, Bruckner oder auch bis zu einem gewissen Grade Schönberg und Webern.
Diese Ruhe in mir, die ich da um 1945 gewonnen habe, hat mich eigentlich unantastbar gemacht, das hat mich in meinen Haltungen überhaupt nicht verändert. Ich habe darauf innerlich nie reagiert.
Die Entdeckung, dass auch die großen Meister wie Mozart sich immer wieder an sich selbst bedient haben, war jüngst wie eine Befreiung für Sie.
Friedrich Cerha: Es entsteht, gespeist durch die fortführende klangliche Fantasie, ein Repertoire an Gesten und Vorstellungen, in denen man lebt. Dieser Speicher verändert sich natürlich fortwährend. Es werden gewisse Dinge allmählich gelöscht, so wie das im Gehirn vorgeht. Aber es stellt sich natürlich gelegentlich die Versuchung von selbst ein, dass gewisse Gesten wiederaufgegriffen werden, und ich habe mich lange Zeit – immer wenn ich diesen Vorgang wahrgenommen habe – dagegen gewehrt, weil ich es als Wiederholung empfunden habe.
Bekanntlich ist das in der Bildenden Kunst unter den Malern ja allgemein üblich, dass sie sich eine Zeitlang einer Masche, eines Gestus bedienen und sich wiederholen. Das hat auch zur Folge, dass jedermann dann von Weitem erkennt, wer der Maler ist. Und diese Sache erhöht natürlich dann auch die Preise. Das ist Gott sei Dank in der Musik doch anders, obwohl es diese Wiederholungen natürlich auch gibt. Ich bin also mir gegenüber toleranter geworden, was das variable Denken herausfordert und damit auch die Möglichkeiten sehr bereichert hat. Das ist in den Stücken der letzten fünf, sechs Jahre zu sehen.
Ihre Werkbeschreibungen spiegeln das ganz eindeutig wider. Zu Instants schreiben Sie: „Ein rigoroser Reduktionismus hat im vorigen Jahrhundert überaus interessante Werke hervorgebracht, aber festgehalten hat er oft zum Eindruck von Armut und Eintönigkeit geführt und es wurde mir immer mehr bewusst, dass auch Reichtum und Vielfalt eine Qualität von Kunst sind oder sein können.“ Wen haben Sie mit diesem „rigorosen Reduktionismus“ gemeint?
Friedrich Cerha: Ich habe damit unmittelbar im Zusammenhang den Minimalismus gemeint, das war sicherlich nicht auf Webern gezielt. Vielleicht auch gegen das Sich-einer-Methode-Ausliefern, die man dann abspult.
Getraud Cerha: Eigentlich auch gegen deinen eigenen Purismus um 1960 – du hast ja in den Exercises angefangen, dich davon zu befreien.
Friedrich Cerha: Ja.
Wir kommen immer wieder auf das Thema zurück: Sie spüren, dass Sie etwas beengt, und Sie lösen das dann auf. Zum Beispiel bei den Momenten: „Ich bin müde des monomanen Fortspinnens, des ›gearbeiteten‹ Ausbreitens musikalischer Ideen und habe mich beim Hören derartiger gegenwärtiger Musik dabei ertappt, dass mir oft langweilig war.“
Friedrich Cerha: Ja, damit hängt dieses Bevorzugen der Kleinformen in den letzten Jahren zusammen, beziehungsweise des zyklischen Denkens. Webern hat das ja auch immer wieder beschäftigt, er hat ja sehr lange an den Zyklen von Liedern oder Orchesterstücken gearbeitet, bevor er die endgültige Aufeinanderfolge gefunden hat. Die Momente gibt es ja schon seit 2004, wobei natürlich die Aneinanderreihung solcher Kleinformen nicht eine zufällige ist, die einzelnen Elemente hängen innerlich zusammen, es gibt Bezüge. Im großen Zyklus zeichnet sich sogar ein Gesamtprozess ab. Diese Kleinformen sind ja jetzt auch wieder in den Orgelstücken und in den letzten Orchesterstücken vorhanden.
Sie haben auch immer wieder Zitate von alten Meistern in Ihren Werken verpackt.
Friedrich Cerha: Es hat mich in meinen musikalischen Träumen immer fasziniert, dass hinter meiner Musik – ganz verschwommen im grauen Unwissen – Komponistenpersönlichkeiten aufgetaucht sind. Ab und zu wollte ich die Nähe dieser Komponisten den Zuhörer ahnen lassen. Das war mit Strawinsky der Fall, mit Webern natürlich ganz deutlich in der Sinfonie, mit Satie im Doppelkonzert. Ich habe in meiner Musik immer gerne Zitate versteckt, allerdings meistens so gut, dass sie nie von jemandem gefunden wurden, manchmal aber auch ganz bewusst: wie eben etwa im Doppelkonzert.
Gibt es so etwas wie einen Personalstil von Friedrich Cerha?
Friedrich Cerha: Ich lese, dass es so etwas gibt. Und sicher gibt es ein ganz bestimmtes Denken und Vorstellen von Musik und Satz, die man immer wieder in Abhängigkeit von der Wiener Schule sieht. Es mag etwas Wahres daran sein, weil mich die lange Beschäftigung doch sehr geprägt hat, aber so stereotyp, wie das jetzt festgestellt wird, ist es etwas übertrieben.
In Bezug auf die Spiegel: Es ist interessant, dass man kompositorische Prozesse dort im formalen Ablauf fast eins zu eins auf die Baal-Gesänge umsetzen kann. Das sind Parallelitäten, die einem auf den ersten Blick nie auffallen würden. Sind das bewusste Parallelitäten?
Friedrich Cerha: Der Vorgang ist ja der, dass Dinge kommen, und erst, wenn sie da sind, einem bewusst werden. Der Schluss des Baal ist eine Klangflächenmusik, die so gekommen ist. Mir war natürlich sehr bald bewusst, dass sie von den Spiegeln abhängig ist. Aber auch andere Abschnitte im Baal hängen natürlich mit den Spiegeln zusammen.
Gertraud Cerha: Neben diesen direkten Einflüssen und Parallelitäten gibt es aber auch indirekte, die nicht so offen daliegen. Ich glaube, es ist das Entwicklungsdenken, das die Leute als Personalstil bezeichnen.
Friedrich Cerha: Das Entwicklungsdenken einerseits, aber auch eine ganz bewusst als Spannungsverlauf eingesetzte, sehr exakt kontrollierte Harmonik.
Gertraud Cerha: Jetzt nicht unbedingt im traditionellen Sinn. Zum Beispiel bei Bruchstück, welches niemand mit Begriffen wie „traditionell“ oder „konventionell“ assoziieren würde, gibt es diese sehr kontrollierte und sich in sehr langsamen Spannungsveränderungen befindliche Harmonie.
Friedrich Cerha: Wobei man mit dem Begriff vorsichtig umgehen muss. In den letzten zehn Jahren oder mehr tritt ein gewisses Collage-Denken harmonisch auf, etwa im letzten Streichquartett oder den drei Orchesterstücken, die jetzt entstanden sind.
Was sind die kompositorischen Aufgabenstellungen, die Sie sich in Zukunft stellen wollen? Wo geht die Reise hin?
Friedrich Cerha: Ich habe zunächst einmal keine lange Reise mehr vor mir [lacht]. Die schönsten Reisen sind ja immer die, von denen man nicht weiß, wohin sie führen. In der Arbeit tut sich natürlich immer Neuland auf, etwas, wo man sozusagen ungesichert ist. Ich sage immer gerne: Wenn man sich im Wald verirrt, dann geht man ein Stück zurück, um einen neuen Weg zu finden, auf dem man sich wieder einigermaßen in gesichertem Gelände befindet. Gott sei Dank gibt es ja einen gewissen Grad von Unsicherheit bei jeder künstlerischen Arbeit.
Sie gehen sehr viel in Konzerte, auch oder gerade von jungen Komponisten. Es hat kaum jemand so einen großen Überblick, was sich international in den jüngeren Generationen tut. Als Pädagoge und als Zuhörer, was würden Sie denn den Komponisten mit auf die Reise geben?
Friedrich Cerha: Christian Ofenbauer wurde gefragt, was er bei mir gelernt hat. Er hat gesagt, er hat gelernt, fortwährend Fragen zu stellen. Dieses Sich-selbst-Befragen und auch Fragen zu stellen zu all dem, was man so tut, ist eine sehr wichtige Tätigkeit auf dem Weg, zu sich selbst zu finden. Das Lehren, soweit es die Komposition betrifft, sollte doch darin bestehen, Menschen zu helfen, zu sich selbst zu finden, eine Identität zu entwickeln. Und das erscheint mir doch sehr wichtig, auch für die Freiheit, die man sich dann in seiner künstlerischen Arbeit nehmen kann.
Wir sind wieder beim Thema der Freiheit …
Cerha lacht.
Interview: Wolfgang Schaufler
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